Forum für Asexualität Foren-Übersicht

Forenregeln | Hauptseite
 

Asexualität = Appetenzstörung mit Selbstbewusstsein?

 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen    AVENde Foren-Übersicht -> Gedanken
Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  
Autor Nachricht
xaida




Alter: 47
Sexualität: Asexuell
Anmeldungsdatum: 18.01.2005
Beiträge: 1633
Wohnort: Berlin
BeitragVerfasst am: Do Feb 09, 2006 15:58    Titel: Asexualität = Appetenzstörung mit Selbstbewusstsein? Antworten mit Zitat

Neulich in meiner Vorlesung zur Einführung in die Sexualwissenschaften betrachteten wir uns genauer die sexuelle Funktionsstörungen. Neben Erektionsstörungen, Orgasmusstörungen und vorzeitiger Ejakulation, sexuell bedingten Schmerzen (Dyspareunie und Vaginismus) und anderen "Herausforderungen", die die Erfüllung sexueller Wünsche so schwierig machen, auch das Fehlen sexueller Wünsche: die Appetenzstörung. Diese wird definiert als anhaltender oder wiederkehrender Mangel an (oder Fehlen von) sexuellen Phantasien und des Verlangens nach sexueller Aktivität.
Wir haben also eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die gute: es gibt uns im wissenschaftlichen Diskurs! Wir existieren! Yay! Smile
Die schlechte: Wir sind eine Störung.

...oder scheinen es auf den ersten Blick zu sein.

Ok, ein Schritt zurück:
Sagen wir, ein Patient kommt zu einem Arzt (Neurologe, Psychater, Sexualmediziner, etc.) und erzählt ihm eine "Besonderheit" aus seinem Leben/Verhalten/Befindlichkeiten. Dann hält sich letzterer bei der Diagnose einer Störung an ein, zwei bestimmte Handbücher, die so etwas wie die Bibel zur Diagnose bilden. Diese nennen sich ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems), von dem es jetzt mittlerweile Version 10 gibt, und DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der Version 4.
In beiden wird das Fehlen eines sexuellen Verlangens als Störung betrachtet und zwar einmal als DSM-IV 302.71 und einmal als ICD-10 F52.0:

Zitat:
Der Verlust des sexuellen Verlangens ist das Grundproblem und beruht nicht auf anderen sexuellen Störungen wie Erektionsstörungen oder Dyspareunie.
Frigidität
Sexuelle Hypoaktivität

siehe: http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2006/fr-icd.htm
Geht also ein Asexueller zum Arzt, kann er als appetenzgestört diagnostiziert werden und dieser kryptische Code für die Behandlung an die Krankenkasse geschickt werden.

Geschichte:
Die erste Ausgabe des DSM wurde 1952 veröffentlicht. Damals tummelten sich dort Homosexualität, Sadomasochismus, Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus und Appetenzstörung in friedlicher Eintracht unter "psychische und Verhaltensstörungen" bzw. "Störungen der Sexualpräferenz". Allerdings schaffte es Homosexualität 1973 in der zweiten Version aus den stigmatisierenden Buchseiten des DSM und damit den Tiefen der Pathologisierung herauszuklettern. Blieb das Feld für die anderen. Und es blieb. Bis zur Version 4. Denn da hat sich schlagartig etwas entscheidendes geändert: die Definition für Störung. Jede Störung muss jetzt zwei Kriterien erfüllen, nämlich einmal auffällige Fantasien/Neigungen/Verhaltensweisen (Kriterium A) und zweitens Leidensdruck (Kriterium B).
Es ist also ausschlaggebend, ob der Patient direkt darunter leidet bzw. es zwischenmenschliche Schwierigkeiten gibt. Das betonte auch mein Professor als sehr wichtiges Kriterium bei der Beurteilung, ob eine Störung vorliegt oder nicht.
Soweit ich das beurteilen kann, sind Asexuelle sicher nicht mehr oder weniger auffällig in Gesellschaft als andere (keinen Sex in der Öffentlichkeit zu haben, ist ja kein disintegrierender Bestandteil). Natürlich kann es Schwierigkeiten bei der Partnersuche geben, aber diese Schwierigkeiten haben sicher auch Homosexuelle, wenn sie nicht gezielt suchen könnten. Also keine besonderen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten.
Und Leiden heißt hier, dass man so unzufrieden direkt mit seiner Asexualität ist, dass man sie loswerden möchte. An die, auf die das zutrifft: Der Sexualmediziner kann Euch bestimmt helfen. Und die Pharmakonzerne arbeiten mit Hochdruck an einem appetenzfördernden Mittel. Ganze Armeen von Wissenschaftlern und Wirtschaftsbossen sind auf Eurer Seite. An alle, die nicht direkt unter ihrer Asexualität leiden: Wenn wir jetzt also sagen, dass wir nicht gestört sind bzw. dass wir keine Appetenzstörung haben - dann haben wir recht Smile Denn es ist nur noch Störung, was sich als Störung sieht.

(Ähnliche Überlegungen gibt es zu Sadomasochismus: http://www.datenschlag.org/papiertiger/lexikon/dsm.html).

Und hier meine Einladung, sich mal so richtig aufzuregen, denn: der ICD (international verbindlich) hat dieses Kriterium nicht. Für ihn sind Sadomasochisten, Fetischisten, Appetenzgestörte, Transsexuelle, Voyeuristen oder Exhibitionisten alle gleich - nämlich krank. Es interessiert nicht im Geringsten wie wohl sie sich fühlen, in welchen Partnerschaften sie sind oder dass man durch subkulturelle Organisation und Akzeptanz viel dieser Isolation nehmen könnten, die durch Pathologisierung noch verstärkt werden. Leider haben Homosexuelle wohl kein Handbuch herausgegeben, wie man sich aus dem ICD oder DSM windet. Was würde da wohl sonst drin stehen?[/url]


Zuletzt bearbeitet von xaida am Do Feb 09, 2006 21:53, insgesamt 3-mal bearbeitet
Nach oben
          
Adamo




Alter: 59
Sexualität: Asexuell
Anmeldungsdatum: 12.11.2005
Beiträge: 404
Wohnort: östlich von Ffm
BeitragVerfasst am: Do Feb 09, 2006 19:30    Titel: Re: Asexualität = Appetenzstörung mit Selbstbewusstsein? Antworten mit Zitat

xaida hat folgendes geschrieben:

An die, auf die das zutrifft: Der Sexualmediziner kann Euch bestimmt helfen. Und die Pharmakonzerne arbeiten mit Hochdruck an einem appetenzfördernden Mittel. Ganze Armeen von Wissenschaftlern und Wirtschaftsbossen sind auf Eurer Seite. An alle, die nicht direkt unter ihrer Asexualität leiden: Wenn wir jetzt also sagen, dass wir nicht gestört sind bzw. dass wir keine Appetenzstörung haben - dann haben wir recht Smile Denn es ist nur noch Störung, was sich als Störung sieht.

Da sehe ich allerdings die Gefahr, dass wir Asexuellen von der Pharmaindustrie als willkommene Laborratte benutzt werden. Das soll heißen, wenn die Industrie uns kurieren kann dann kann man auch die Appetenzstörung bei Frauen heilen. Gewisse Ansätze dazu gibt es auf medizinischem Gebiet. Siehe Spiegel 06/2006.
Der Frauenarzt Sievers hat in Hamburg Deutschlands erste Spezialpraxis eröffnet, in der es rein medizinisch um das gestörte Liebesleben geht.
Ein paar Auszüge aus dem Artikel: „Manche Frauen fanden Sex nie schön und hatten noch nie einen Orgasmus. Lässt sich dafür ein körperlicher Grund benennen, bedeutet oft allein diese Diagnose bereits Erleichterung.“
Geringe Mengen des männlichen Hormons Testosteron etwa sind nach neuen Studien auch bei der Frau für die Lust zuständig. Es wird in den Eierstöcken gebildet, über die Wechseljahre hinaus. Allerdings ist der Gipfel der Produktion mit etwa 20 erreicht, danach fällt der Spiegel ab. Manche merken schon mit Anfang 30, dass es früher erfüllender war.“
„Ermittelt Sievers bei Luststörungen einen extrem niedrigen Testosteron-Level, rät er dazu, das Hormon zu ersetzen, wenn möglich lokal. Gute Erfolge bringt oft bereits ein kleiner Tupfer eines testosteronhaltigen Gels, aufzutragen auf die Klitoris.“
„Für Frauen, die keine Medikamente nehmen wollen, wurde in den USA eine Vakuumpumpe entwickelt, mit der sich die feinen Gefäße in der Klitoris trainieren lassen. Dazu wird ein weicher Saugnapf auf die Klitoris aufgesetzt. Das medizinische Hilfsmittel, etwa so groß wie ein Rasierapparat und ähnlich geräuschvoll, ist beim Liebesspiel zu benutzen, oder die Patientin trainiert morgens die Gefäße mit der Pumpe und abends mit dem Partner.“
Manche Männer kannten dieses damals als Penispumpe.

Der Frauenarzt Sievers sagte im Artikel folgendes: Der Sexualmediziner redet über den Orgasmus wie der Orthopäde über die Bandscheibe

Männer sind da einfacher gestrickt den für die gibt es ja Viagra. Eine blaue Pille eingeworfen und schon steht er!

http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl/fr-icd.htm?gf50.htm+
Unter Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50-F59) und F52.7 (Gesteigertes sexuelles Verlangen) findet man/frau den Punkt F52.8 (Sonstige sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit) den Punkt F52.9 Nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit.

Ich finde, das F52.9 durchaus in medizinischer Hinsicht auf uns zutrifft. Laughing
_________________
Bis bald,
Michael

---------
Wir ermutigen Menschen, ihre ganz persönliche Bestimmung zu finden, jenseits von Moralvorstellungen oder familiärer Erwartung.


Zuletzt bearbeitet von Adamo am Do Feb 09, 2006 19:42, insgesamt einmal bearbeitet
Nach oben
          
Volker(SH)





Sexualität: Asexuell
Anmeldungsdatum: 30.08.2005
Beiträge: 145
Wohnort: bei Hamburg
BeitragVerfasst am: Do Feb 09, 2006 19:38    Titel: Antworten mit Zitat

Es gibt auch Menschen, die ihre Haarfarbe oder die Form ihrer Nase als Problem betrachten und daran verzweifeln. Ist das deswegen eine Störung?
Das einzige gestörte, was ich daran entdecken kann, ist ein schwaches Selbstbewußtsein. Man sollte diesen Leuten lieber helfen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Die Erfahrung hat doch gezeigt, daß Leute, die mit sich unzufrieden sind, selten zufriedener werden, wenn sie irgendwelche Merkmale an sich ändern. (siehe Schönheitsoperationen, die Leute finden immer wieder was neues, was ihnen nicht gefällt und wenn sie alles verändert haben, sehen sie aus wie Michael Jackson...)
Oder diejenigen, die eine Diät nach der anderen machen und am Ende wegen Unterernährung im Krankenhaus landen.
Dagegen hilft nur eins: Sich auf seine positiven Eigenschaften konzentrieren und was draus machen. Ist nebenbei auch billiger und gesünder als an sich rumbasteln zu lassen.

Der Mensch setzt sich aus sovielen Eigenschaften zusammen, da findet sich immer irgendetwas, was nicht der DIN-Norm entspricht.
Außerdem wandelt sich die öffentliche Meinung auch ständig. Vor ein paar Jahrzehnten war Sex noch völlig verpönt. Da durfte man nicht mal drüber reden. Und heute soll man gestört sein, wenn man sich dem Druck der Gesellschaft nicht beugen will? Wer weiß, wie man in ein paar Jahren über sowas denkt.
Nach oben
          
endorphin
Account abgemeldet



Alter: 53
Sexualität: Asexuell
Anmeldungsdatum: 08.01.2006
Beiträge: 141
BeitragVerfasst am: Sa Feb 11, 2006 9:39    Titel: Re: Asexualität = Appetenzstörung mit Selbstbewusstsein? Antworten mit Zitat

xaida hat folgendes geschrieben:

Geht also ein Asexueller zum Arzt, kann er als appetenzgestört diagnostiziert werden ...
Der Sexualmediziner kann Euch bestimmt helfen.

Ich fürchte so einfach ist es nicht. Ich war bei mehreren Ärzten. Ich hatte das Gefühl, daß sie nichts von Asexualität wußten und daß, als ich Ihnen meine Situation geschildert habe (kein Interesse an Sex), sie mir nicht so richtig geglaubt haben.

Wenn man sich als Asexueller an einen Arzt wendet, kann es sein, daß man so wertvolle Tips bekommt, es doch mit einer Prostituierten oder Viagra zu versuchen.

xaida hat folgendes geschrieben:

Wir haben also eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die gute: es gibt uns im wissenschaftlichen Diskurs!

Wenn ich mich richtig erinnere, ist die Forscherin, die sich dafür engagiert hat, daß Asexualität/Appetenzstörungen in das DSM aufgenommen werden, vor einigen Jahren verstorben. Ich finde seitdem wird das Thema von der Wissenschaft weiterhin eher stiefmütterlich behandelt.
Nach oben
          
Maz
ADMod Team



Alter: 47
Sexualität: keine Angabe
Anmeldungsdatum: 12.02.2005
Beiträge: 15138
BeitragVerfasst am: So Jan 28, 2024 15:54    Titel: Antworten mit Zitat

Ich schiebe mal diesen uralten Thread nach oben da schon damals problematische Vorstellungen vertreten wurden, die sich hartnäckig halten, bzw. um mit auch noch in jüngerer Zeit in "geisteswissenschaftlich-feministisch" ausgerichteten Netzwerken zum Thema Asexualität bzw. von einigen "Ace Aktivisten" verbreiteten Märchen aufzuräumen.

(Der geneigte Leser kann sich entsprechende Aussagen gerne selbst googeln, habe keine Lust Unsinn zu verlinken).

Dass im DSM-5 mittlerweile sogar eine Selbstidentifikation als asexuell explizit als "Ausschlussgrund" erwähnt wird dürfte ja bereits bekannt sein (und was sich in der Praxis dann mit dem ICD-11 ändert werden wir sehen. In Deutschland wird es nach wie vor nicht angewandt).

Im Grunde geht es also "nur" noch um folgende Aussage, die 2006 in ähnlicher Form vertreten wurde, wie sie jetzt noch andernorts vertreten wird

xaida hat folgendes geschrieben:

der ICD (international verbindlich) hat dieses Kriterium nicht. Für ihn sind Sadomasochisten, Fetischisten, Appetenzgestörte, Transsexuelle, Voyeuristen oder Exhibitionisten alle gleich - nämlich krank. Es interessiert nicht im Geringsten wie wohl sie sich fühlen


...und die damals schon genauso falsch war wie aktuell

Zum einen werden psychische Störungen natürlich generell nicht diagnostiziert wenn der Umstand als solcher keine Probleme verursacht und das ICD-10 ist da keine Ausnahme. Relevant sind insbesondere:

1. Leidensdruck aufgrund des Phänomens
2. Erhebliche Einschränkungen/Probleme im Sozialleben (insbesondere fremd- und/oder selbstschädigendes Verhalten).

(letzteres trifft z.B. auf viele Paraphilien zu. Der Exhibitionist schädigt durch ein "zwanghaftes Verhalten" unbeteiligte Personen und erst daraus ergibt sich ein Störungswert).

Ausführlicher formuliert geht es um folgende allgemein anerkannte Kriterien, die sich u.a. in der Literatur finden (z.B. Hautzinger: Klinische Psychologie).

    - statistische Seltenheit,
    - Verletzung sozialer Normen,
    - persönliches Leid,
    - Beeinträchtigung der Lebensführung,
    - Unangemessenheit des Verhaltens und Erlebens

Wenn keine dieser Grundbedingungen vorliegt handelt es sich nicht um eine psychische Störung, auch wenn einzelne Komponenten fehlen können, z.B. der Leidensdruck bei der Manie oder auch durch die Gewöhnung an Einschränkungen bei Chronifizierung einer Störung.

Der Umstand, dass diese Grundvoraussetzungen nicht bei jeder Störung explizit aufgelistet werden bedeutet daher nicht, dass sie bei bestimmten Störungsbildern plötzlich nicht mehr relevant sind. Selbstverständlich weiß das auch jeder Diagnostiker, der schon mal Klinische Psychologie belegt hat. Menschliches Versagen ist natürlich immer möglich aber wie erwähnt: Das ist dann kein Problem des ICD oder DSM. Auch dass nicht jeder Therapeut in jedem Fachgebiet versiert ist, ist kein Problem des ICD-10. Ein Hausarzt ist ja zumeist auch kein Herzchirurg. Nur weil beide zufällig Medizin studiert haben wird man sich von ersterem eher nicht am Herzen operieren lassen und wird von einem Facharzt auch eine wesentlich bessere Diagnostik für ein bestimmtes Problem erwarten können.

Des Weiteren gibt es dann noch etwas, dass sich Differentialdiagnostik nennt.

Vereinfacht gesagt: Wenn eine bestimmte Störung das Problem besser erklären kann wird keine andere Störung diagnostiziert. Natürlich können es Menschen schaffen durch z.B. Therapeutenhopping alle möglichen Diagnosen aufzuhäufen, das ist dann aber abermals kein Problem der Manuale sondern entweder ein Versagen auf Seiten der konkreten Diagnostiker (Statistiken dazu wären natürlich hilfreich) oder aber auf der Seite des Patienten selbst (entweder mutwillig oder nicht, denn es gibt z.B. auch sog. artifizielle Störungen wie das Münchhausen Syndrom, bei dem die Patienten Krankheiten überzeugend vortäuschen, die sie nicht haben).

Wer hinter menschlichem Versagen gleich ein ganzes "System" vermuten möchte welches sich z.B. gegen "sexuelle Minderheiten" verschworen hat, der kann das natürlich machen, aber ohne konkrete Statistiken und Beweise bewegt man sich damit eben auch nur auf dem Niveau eines Verschwörungstheoretikers.

Wenn jemand mit z.B. einer Depression (zentrales Kriterium Verlust des Interesses an fast allen Aktivitäten, die zuvor Freude machten) bei einem seriösen Psychologen auftaucht wird dieser jedenfalls mit an absoluter Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zusätzlich auch noch eine sexuelle Appetenzstörung diagnostizieren. Dass zumindest in diesem Bereich die Diagnostik funktioniert lässt sich sich z.B. sogar auf Grundlage des Ace Community Survey vermuten in dem zwar (habe konkret die Version von 2019 durchgearbeitet) über 1/3 der Teilnehmer an einer diagnostizierte Depression leiden aber nur 0,1% eine sexuelle Appetenzstörung diagnostiziert bekommen haben (und 1% selbst vermuten eine zu haben). Wenn wir ausgehend von der Teilnehmerzahl das ganze aufs Forum hochrechnen dürften maximal 20-25 Personen hier diese Diagnose bekommen haben.

Diese Seltenheit scheint sich auch auf Grundlage einer Forenumfrage zum Thema zu bestätigen, siehe dazu hier: https://www.aven-forum.de/viewtopic.php?t=14374

Wer darüber hinaus tatsächlich schon mal in der Realität das ICD-10 in der Hand hatte (und nicht nur die Kurzfassungen im Internet betrachtet hat) wird feststellen, dass es dort (konkret z.B. in der mir vorliegenden Ausgabe von 2006, was dem Betrachtungszeitraum dieses Threads entspricht) bei den einzelnen Unterkapiteln sogenannte G-Kriterien aufgelistet werden, die sich auf eine ganze Gruppe nachfolgender Störungen beziehen.

Konkret findest sich dazu unter F52 "sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit" folgende Liste:

    G1. "die Betroffenen sind nicht in der Lage eine sexuelle Beziehung so zu gestalten wie sie möchten"

    G2. "Die Funktionsstörung tritt häufig auf, kann aber bei Gelegenheit auch fehlen"

    G3. "Die Funktionsstörung besteht seit mindestens sechs Monaten"

    G4. "Die Störung ist nicht auf eine andere psychische oder Verhaltensstörung der ICD-10, auf körperliche Störungen (wie eine endokrine Störung) oder auf medikamentöse Behandlung zurückzuführen"

Keiner dieser Punkte trifft bei seriöser Betrachtung auf Asexuelle zu.

Neben G1 (die Hintergründe zu ermitteln ist ja gerade die Aufgabe der Diagnostik) treffen insbesondere auch G2 und G3 nicht zu, welche die Störungen als nicht gleichmäßig stabil definieren und über den Zeitfaktor auch auf einen Beginn der Störung verweisen. Eine psychische Störung ist natürlich generell ein Phänomen welches zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt und sich ggf. später (mehr oder weniger vollständig) wieder auflöst. Das gilt für sexuelle Orientierungen hingegen nicht.

zum Thema "Medikalisierung von Asexualität": Die Anwendung illegaler Drogen durch Therapeuten ist natürlich verboten und sogar die wenigen Medikamente zur Behandlung sexueller Appetenzstörungen sind aktuell nur in den USA zugelassen.

Wer also allein aufgrund eines Fehlens eines Interesses an Sex in Deutschland von einem Therapeuten medikamentös behandelt wurde, der möge sich melden. Bis dahin fällt die Behauptung dergleichen würde stattfindet für mich in die Kategorie der urban legends (abc hat mal gesagt, dass xyz dies und das erlebt hat => es passiert andauernd...nicht).

Nun kann man sich natürlich grundsätzlich darüber streiten ob sexuelle Appetenzstörungen überhaupt einen eigenen Diagnoseschlüssel benötigen oder ob immer andere psychische Probleme im Hintergrund stehen (das ist Aufgabe seriöser Forschung), aber eine Pathologisierung Asexueller oder gar eine unerwünschte Behandlung mit Drogen oder Medikamenten findet aufgrund dieses Schlüssels mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht statt.
_________________
Bei Problemen mit den Forenfunktionen: Forumsfeature-Guide
Ein Forum lebt davon, dass Menschen bereit sind sich selbständig einzubringen.
Nach oben
          
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   

Neue Antwort erstellen

Neues Thema eröffnen
   AVENde Foren-Übersicht -> Gedanken Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde
Seite 1 von 1

 
Gehe zu:  
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.


Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group

Impressum: AVENde ist ein unabhängiger Ableger von AVEN. Ansprechpartner für die deutsche Seite (aven-forum.de) ist der Administrator "Dirk Walter". Kontaktadresse: Dirk Walter - Rehhütterstrasse 4 - 67165 Waldsee
email: aven.de@dirk-walter.de - Telefon: 06236/54804.
Beachten Sie auch: Forenregeln und Datenschutz